Rückzug

 

Arutha betrachtete den Canon.

Noch vor dem ersten Tageslicht war er mit Guy und Baron von Hohe Burg hinausgeritten, um die vordersten Abteilungen von Murmandamus' Armee zu beobachten. Von der Stelle aus, an der Brians Männer ihn und seine Gefährten aufgehalten hatten, konnte man in der Ferne Lagerfeuer erkennen.

Arutha zeigte darauf. »Seht Ihr das, Brian? Das müssen ungefähr tausend Feuer sein, das heißt fünf-, sechstausend Soldaten. Und das sind nur die ersten Abteilungen. Morgen um diese Zeit werden es doppelt so viele sein. Und in drei Tagen wird Murmandamus dreißigtausend Männer gegen Euch werfen.«

Von Hohe Burg ignorierte Aruthas Worte und beugte sich über den Hals seines Pferdes vor, als könnte er so besser sehen. »Ich sehe nur Feuer, Hoheit. Ihr wißt, dieser Trick, mehr Lagerfeuer anzuzünden, ist sehr verbreitet, damit der Gegner weder die genaue Stärke noch die genaue Lage der Truppe einschätzen kann.«

Guy fluchte in sich hinein und wendete sein Pferd. »Ich habe es nicht nötig, einem Dummkopf das Offensichtliche zu erklären.«

»Und ich habe es nicht nötig, mich von einem Verräter beleidigen zu lassen«, entgegnete von Hohe Burg.

Arutha lenkte sein Pferd zwischen die beiden und sagte: »Guy, Ihr habt mir keinen Treueeid geleistet, doch in diesem Moment seid Ihr nur deshalb noch am Leben, weil ich Euren Worten geglaubt habe. Ich möchte nicht, daß Ihr nun aus dieser Sache einen Ehrenhandel macht. Wir können zur Zeit keine Duelle gebrauchen. Ich brauche Euch.«

Guy kniff sein eines Auge zusammen, und offensichtlich war er zu weiteren Beleidigungen bereit, doch er sagte schließlich nur: »Ich möchte mich entschuldigen ... mein Lord. Die Anstrengungen einer langen Reise. Ich bin sicher, Ihr versteht.« Dann spornte er sein Pferd an und ritt in Richtung der Garnison davon.

Brian von Hohe Burg sagte: »Dieser Mann war schon als Herzog ein unerträgliches Schwein, und es scheint, als hätten die beiden Jahre, in denen er sich in den Nordlanden herumgetrieben hat, nichts daran geändert.«

Arutha wendete sein Pferd und sah Lord von Hohe Burg ins Gesicht. Seine Geduld war langsam am Ende. »Er ist aber gleichzeitig der beste General, den ich jemals kennengelernt habe. Er mußte zusehen, wie seine Burg gestürmt wurde: seine Stadt wurde vollkommen in Schutt und Asche gelegt. Tausende seiner Leute laufen verstreut durch die Berge, und er weiß nicht einmal, wie viele von ihnen überlebt haben. Ich denke, nun könnt Ihr einschätzen, wieso er so gereizt ist.« Der beißende Spott dieser Bemerkung enthüllte seine eigene Niedergeschlagenheit.

Lord von Hohe Burg schwieg. Er wandte sich ab und beobachtete das feindliche Lager, über dem die Morgendämmerung aufzog.

 

Arutha kümmerte sich um sein Pferd, welches er den Abtrünnigen in den Bergen abgenommen hatte. Die braune Stute erholte sich langsam und nahm wieder an Gewicht zu. An diesem Morgen hatte sich Arutha ein Pferd vom Baron geliehen. Noch einen Tag, und die Stute wäre wieder in der Lage, den Ritt in den Süden durchzustehen. Arutha hatte erwartet, der Baron würde ihm zumindest einen Wechsel der Tiere anbieten, doch Brian, Lord von Hohe Burg, ließ keine Gelegenheit aus, Arutha voller Genugtuung deutlich zu machen, daß er sich als Vasall von Lyam dem Prinzen von Krondor gegenüber in keiner Weise verpflichtet sah. Arutha war sich nicht einmal sicher, ob Brian ihnen wenigstens eine Eskorte zur Seite stellen würde. Dieser Mann hatte ein unerträglich übertriebenes Geltungsbedürfnis, und dazu war er nicht gerade besonders scharfsinnig, dafür allerdings verdammt stur - Eigenschaften, die bei einem Mann, der an die Grenze versetzt worden war, nicht überraschend waren, denn hier sollte er eine kleine Garnison lediglich gegen einen Haufen schlecht organisierter Goblins halten und nicht gegen eine schlachterprobte und gutgeführte riesige Armee antreten.

Die Stalltür öffnete sich, und Locklear und Jimmy kamen herein. Sie zögerten, als sie Arutha sahen, dann näherte sich Jimmy. »Wir wollten mal nach den Pferden sehen.«

Arutha sagte: »Ich wollte deine Dienste keinesfalls herabwürdigen. Doch ich erledige solche Dinge lieber selbst, wenn ich die Zeit dafür erübrigen kann. Außerdem gibt mir das die Gelegenheit, ein wenig nachzudenken.«

Locklear setzte sich auf einen Heuballen zwischen Aruthas Tier und der Wand. Er streckte die Hand aus und tätschelte das Maul der Stute. »Hoheit, warum geschieht das alles eigentlich.«

»Du meinst den Krieg?«

»Nein, ich kann mir schon vorstellen, warum jemand einen Eroberungsfeldzug führt, zumindest habe ich aus der Geschichte sehr viel über solche Kriege gelernt. Nein, ich meine den Ort. Warum ausgerechnet hier? Amos hat uns oben Karten vom Königreich gezeigt und ... es ergibt einfach keinen Sinn.«

Arutha hörte auf, das Pferd zu striegeln. »Damit hast du genau den Punkt angesprochen, der mir selbst die größte Sorge bereitet. Guy und ich haben uns auch schon darüber unterhalten. Wir wissen es nicht. Doch einer Sache kann man sich sicher sein: Wenn der Feind etwas Unerwartetes unternimmt, dann hat er dafür seine Gründe. Und diese sollte man am besten so schnell wie möglich verstehen, Junker, denn sonst ist das vermutlich der Anfang vom Ende.« Er kniff die Augen zusammen. »Nein, es muß einen Grund geben, warum Murmandamus diesen Weg eingeschlagen hat. Wenn man in Betracht zieht, was er bis zum Einbruch des Winters noch erreichen kann, dann muß Sethanon sein Ziel sein. Doch warum? Es gibt keinen offensichtlichen Beweggrund dafür, der ihn ausgerechnet dorthintreiben würde, denn ist er einmal dort, muß er bis zum Frühjahr abwarten. Und wenn das Frühjahr beginnt, werden Lyam und ich ihn zermalmen.«

Jimmy zog einen Apfel aus seiner Jacke und schnitt ihn in zwei Hälften, wovon er die eine dem Pferd gab. »Außer, er rechnet damit, die Sache bereits vor dem Frühjahr erledigt zu haben.«

Arutha sah Jimmy an. »Was meinst du damit?«

Jimmy zuckte mit den Schultern und wischte sich den Mund ab. »Ich weiß auch nichts Genaues, außer dem, was Ihr gesagt habt. Man muß einfach überlegen, worauf der Feind hinauswill. Wenn man voraussetzt, die Stadt sei nicht zu verteidigen, dann geht er vielleicht davon aus, daß Ihr alle Truppen aus der Stadt abzieht. Wie Ihr gesagt habt, könnt Ihr ihn zermalmen, sobald das Frühjahr kommt. Ich denke, das weiß er auch. Nun, falls ich mich also zu einem Ort aufmache, an dem ich im nächsten Frühjahr geschlagen werden kann, dann nur, weil ich nie geplant habe, zu der Zeit noch dort zu sein. Oder es gibt da etwas, das mir einen Vorteil verschafft - was mich also sehr mächtig macht, dann brauche ich mich nicht mehr darum zu sorgen, ob ich zwischen zwei Armeen gerate. Oder vielleicht marschieren die Armeen dann gar nicht erst gegen mich. So etwas in der Art.«

Arutha stützte das Kinn auf seinen Arm, der auf dem Rücken des Pferdes ruhte. Er dachte nach. »Aber was?«

Locklear meinte: »Etwas Magisches?«

Jimmy lachte: »Mit Magie haben wir nicht wenig zu tun gehabt, seit dieser ganze Schlamassel angefangen hat.«

Arutha fuhr mit dem Finger über die Kette mit dem Talisman, den er von den ishapianischen Mönchen in Sarth geschenkt bekommen hatte. »Etwas Magisches«, murmelte er. »Aber was?«

Ruhig sagte Jimmy: »Es muß etwas sehr Großes sein, vermute ich.«

Arutha versuchte, seine zunehmend verwirrten Gedanken zu ordnen. Jimmy hatte recht, das fühlte er. Und seine Niedergeschlagenheit, weil er nicht wußte, welches Geheimnis hinter Murmandamus' verrückter Strategie stand, verwandelte sich langsam in Wut.

Plötzlich erschollen die Trompeten, und unmittelbar darauf hörte man Stiefeltritte auf dem Steinpflaster, als die Soldaten auf ihre Posten eilten. Arutha verließ sofort den Stall, und die Jungen folgten ihm auf dem Fuße.

 

Galain zeigte nach unten. »Da.«

Guy und Arutha standen auf dem höchsten Turm der Festung und sahen hinunter auf das Außenwerk. Jenseits davon konnte man in der Hauerschlucht die ersten Truppenteile von Murmandamus' Armee sehen. »Wo ist von Hohe Burg?« fragte Arutha.

»Unten auf der Mauer bei seinen Männern«, antwortete Amos. »Er ist vor kurzem eingeritten, und seine Leute sahen blutig und geschlagen aus. Scheinbar haben die Dunklen Brüder in den Hügeln über seinem vordersten Posten gelauert und ihn dort umzingelt. Und sieht so aus, als hätte er den größten Teil seiner Abteilung da draußen verloren.«

Guy fluchte. »Dieser Trottel. An dieser Stelle hätte er Murmandamus' Armee für einige Tage einschließen können. Hier auf der Mauer wird das jetzt ein verdammtes Trauerspiel.«

Der Elb sagte: »Es war dumm, die Bergmoredhel zu unterschätzen. Wenn die einmal in den Felsen sind ... Er hat es schließlich nicht mit einfachen Goblins zu tun.«

Arutha sagte: »Ich werde sehen, ob ich mit ihm reden kann.«

Der Prinz eilte den Hauptturm hinunter, und nach einigen Minuten stand er neben Lord von Hohe Burg auf der Mauer. Der Baron blutete aus einer Kopfwunde, die er erlitten hatte, als man ihm den Helm heruntergeschlagen hatte. Er hatte keinen neuen aufgesetzt, und sein Haar war mit trockenem Blut verklebt. Der Mann war leichenblaß und stand wackelig auf den Beinen, doch er führte sein Kommando immer noch, ohne zu zaudern. Arutha sagte: »Brian, glaubt Ihr nun, was ich Euch erzählt habe?«

»Wir werden sie hier einschließen«, antwortete der Baron und zeigte auf eine schmale Stelle der Schlucht kurz vor der Burg. »Dort können sie keine Rampen aufstellen, also halten wir die Männer vor der Mauer auf. Wir werden sie niedermähen wie Weizen mit der Sense.«

»Brian, er läßt eine Armee von dreißigtausend Mann gegen Euch aufmarschieren. Wie viele habt Ihr hier? Zweitausend? Er schert sich nicht um Verluste! Er wird seine Soldaten solange vor die Mauern treiben, bis sie über die Leichen in die Burg eindringen können. Ihr könnt die Festung noch einen, höchstens zwei Tage halten.«

Der Baron durchbohrte Arutha mit seinen Blicken. »Mein Auftrag besteht darin, diese Stellung zu halten. Ich werde sie ohne Erlaubnis des Königs nicht aufgeben. Ich habe den Befehl, die Festung um jeden Preis zu verteidigen. Nun, ihr gehört nicht zu meinem Offiziersstab. Bitte verlaßt die Mauer.«

Arutha stand einen Moment lang wie erstarrt da, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. Dann stieg er von der Mauer herunter und eilte zum Wohnturm zurück. Als er bei den anderen eingetroffen war, sagte er zu Jimmy: »Geh, sattel die Pferde und such alles zusammen, was wir für einen langen Ritt brauchen. Stehle aus der Küche, was du nur kriegen kannst. Wir werden wahrscheinlich übereilt aufbrechen müssen.«

Jimmy nickte und zog Locklear am Ärmel mit sich. Arutha, Guy, Galain und Amos beobachteten, wie sich die vorderste Front der angreifenden Armee immer weiter nach vorn schob und sich wie eine langsam anrollende Flutwelle über die Schlucht ergoß.

 

Es kam so, wie Arutha es vorausgesagt hatte: Eine Woge von Soldaten schwappte durch den engen Durchlaß. Die Festung war als Stützpunkt für die Garnison gebaut worden, und niemand hatte daran gedacht, daß sie eines Tages dem massiven Ansturm einer geordneten Armee standhalten müßte. Und jetzt war eine solche Armee auf dem Vormarsch.

Arutha trat zu seinen Gefährten auf dem Turm, die beobachteten, wie von Hohe Burgs Bogenschützen die vordersten Teile von Murmandamus' Heer niedermetzelten. Dann teilte sich die Frontlinie, und Goblins mit Sturmwänden eilten geduckt voran und bildeten einen Schutzwall. Bogenschützen der Moredhel rannten herbei, suchten dahinter Deckung und beantworteten den Pfeilhagel von der Mauer. Die erste Salve fegte gleich ein Dutzend Männer des Barons herunter, und die Angreifer stürmten weiter voran. Wieder und wieder gingen die Pfeilsalven zwischen beiden Seiten hin und her, und die Verteidiger hielten stand. Doch die Angreifer kamen der Mauer immer näher.

Das Blut floß in Strömen, und die Goblins stiegen über die Leichen der Gefallenen hinweg. In Wellen preschten sie vor und zogen sich wieder zurück, und mit jedem Mal näherten sie sich der Mauer etwas mehr. Fiel ein Bogenschütze, rannte der nächste nach vorn und nahm seinen Platz ein. Dann, als die Sonne über der hohen Wand der Schlucht stand, hatten die Angreifer den halben Weg bis zur Mauer hinter sich gebracht. Und in der Zeit, die die Sonne brauchte, um über den schmalen Canon zu wandern, war die Entfernung auf weniger als fünfzig Meter zusammengeschmolzen. Die nächste Welle wogte heran.

Sturmleitern wurden nach vorn geschleppt, und die Verteidiger trieben einen hohen Blutzoll unter denen ein, die sie trugen, doch jeder Goblin oder Troll, der fiel, wurde augenblicklich durch einen anderen ersetzt. Schließlich lehnten die Sturmleitern an der Mauer. Mit langen Stangen wurde versucht, sie umzustürzen, doch gleich wurden neue aufgerichtet. Goblins kletterten hinauf und wurden von Stahl und Feuer begrüßt.

Und dann ging die Schlacht um Hohe Burg erst richtig los.

 

Arutha beobachtete, wie die Verteidiger sich neu formierten. Die letzte Welle war im Süden über die Mauer des Außenwerks geschwappt, doch die Verstärkung hatte die Bresche schließen können und die Angreifer vertrieben. Bei Sonnenuntergang verkündeten die Trompeten den Rückzug, und Murmandamus' Heer verschwand im Canon.

Guy fluchte. »Ich habe noch nie ein solches Blutbad und eine solche Verschwendung von Menschenleben im Namen der Pflicht gesehen.«

Arutha konnte nur zustimmen. Amos sagte: »Verdammte Hölle! Diese Grenzkerle mögen ja der Abschaum Eurer Armee sein, Arutha, aber sie sind hart und haben es in sich. Ich habe selten Männer gesehen, die ihre Aufgabe so sauber erledigt haben.« Arutha stimmte wiederum zu. »Wenn man an der Grenze dient, dann dauert es nicht lange, bis man richtig abgehärtet ist. leiten mal eine große Schlacht, doch dauernd kleinere Gefechte. Trotzdem sind sie verloren, falls Brian so weitermacht.« Galain sagte: »Sollten wir nicht lieber vor der Morgendämmerung aufbrechen, wenn wir sowieso losmüssen, Arutha.« Der Prinz nickte: »Ich werde noch ein letztes Mal mit Brian brechen. Sollte er sich immer noch jeder Vernunft widersetzen, litte ich ihn um die Erlaubnis, die Garnison zu verlassen.«

»Und wenn wir die nicht bekommen?« fragte Amos.

Arutha sagte: »Jimmy hat schon Proviant gesammelt und für uns einen Weg nach draußen erkundet. Schlimmstenfalls brechen wir zu Fuß auf.«

Der Prinz verließ den Turm und eilte dorthin, wo er von Hohe Burg zuletzt gesehen hatte. Er sah sich um, entdeckte jedoch keine Spur von dem Baron. Also fragte er eine Wache und erhielt als Antwort: »Ich habe den Baron zum letzten Mal vor einer Stunde gesehen. Er könnte unten im Hof bei den Verwundeten und Toten sein, Hoheit.«

Die Worte des Soldaten erwiesen sich als Prophezeiung, denn allerdings fand Arutha Brian, Lord von Hohe Burg, bei den Toten und Verwundeten. Der Arzt kniete gerade bei ihm, und als Arutha dazukam, sah er auf und schüttelte den Kopf: »Er ist tot.«

Arutha wandte sich an einen Soldaten, der neben der Leiche stand. »Wer ist der Stellvertreter?«

Der Mann sagte: »Walter von Gyldenholt, doch ich glaube, der ist während des Sturms auf das Außenwerk gefallen.«

»Und dann?«

»Baldwin de la Troville und ich, Hoheit, wir haben beide den nächsthöchsten Rang nach Walter inne. Wir sind sogar am gleichen Tag hier angekommen, deshalb weiß ich nicht, wer jetzt das Kommando hat.«

»Wer seid Ihr?«

»Anthony du Masigny, der frühere Baron von Calry, Hoheit.«

Arutha kannte den Mann von Lyams Krönung her. Er war einer der Gefolgsleute von Guy gewesen. Er trug auch nach zwei Jahren an der Grenze noch eine gepflegte Erscheinung zur Schau, obwohl er nicht mehr ganz der Höfling war, den er in Rillanon abgegeben hatte.

»Wenn Ihr nichts dagegen habt, dann schickt nach de la Troville und Guy du Bas-Tyra. Wir werden uns in den Gemächern des Barons treffen.«

»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte du Masigny Er ließ den Blick an der Mauer entlang und über den Hof schweifen. »Wirklich, ich würde ein wenig gesunden Menschenverstand und etwas Ordnung schätzen.«

 

Baldwin de la Troville war ein schlanker, habichtähnlicher Mann, genau das Gegenteil von du Masignys gepflegter und weicher Erscheinung. Als beide Offiziere anwesend waren, sagte Arutha: »Falls einer von Euch beiden eine unsinnige Bemerkung machen möchte, wie zum Beispiel, er sei ein Vasall des Königs und werde diese Festung bis zum Tode verteidigen, dann bitte jetzt gleich.«

Die beiden wechselten einen Blick, und du Masigny lachte. »Hoheit, wir sind auf Befehl Eures Bruders hier, und zwar wegen« - er sah zu Guy - »früherer politischer Fehler. Wir sind nicht hier, um unser Leben nutzlos zu verschwenden.«

De la Troville sagte: »Von Hohe Burg war ein Trottel. Ein tapferer Mann, fast ein Held, doch trotzdem ein Trottel.«

»Ihr werdet also von mir Befehle entgegennehmen?«

»Gern«, sagten beide.

»Dann wird von nun an du Bas-Tyra mein stellvertretender Kommandant sein. Ihr werdet ihn als Vorgesetzten akzeptieren.«

Du Masigny grinste: »Das ist kaum etwas Neues für uns zwei.«

Guy nickte und erwiderte das Lächeln. »Sie sind gute Soldaten, Arutha. Sie tun, was getan werden muß.«

Arutha riß eine Karte von der Wand und legte sie auf den Tisch. »Die Hälfte der Garnison soll in einer Stunde im Sattel sitzen, doch alle Befehle werden nur im Flüsterton ausgegeben, keine Trompeten, keine Trommeln, keine Rufe. So bald wie möglich sollen sie in Gruppen von einem Dutzend Männer durch die Einlaßtore hinausschlüpfen, und zwar im Abstand von einer Minute. Sie sollen nach Sethanon reiten. Ich glaube, noch während wir uns hier unterhalten, schleichen Murmandamus' Soldaten auf jeder Seite des Passes durch die Berge und versuchen, uns den Rückzug abzuschneiden. Ich schätze, wir haben kaum mehr als ein paar Stunden, auf keinen Fall länger als bis zur Dämmerung.«

Guy tippte mit dem Finger auf die Karte. »Wenn wir zu diesem Punkt hier eine Patrouille schicken und dann noch hierher, nur der Täuschung halber, dann würde das den Gegner behindern und außerdem etwas von dem Lärm in der Festung überdecken.«

Arutha nickte. »De la Troville, Ihr führt die Patrouille, doch laßt Euch nicht in ein Gefecht mit dem Feind verwickeln und seid auf alle Fälle vor Anbruch der Dämmerung zurück. Bei Sonnenaufgang wird diese Garnison geräumt sein, dann wird sich hier kein lebender Mann mehr aufhalten.

Die ersten Gruppen, die aufbrechen, bestehen jeweils aus sechs gesunden und sechs verwundeten Soldaten. Bindet die Verwundeten auf die Pferde, wenn es notwendig ist. Nach dem Gemetzel heute werden genug Reittiere zu Verfügung stehen, so daß jede Gruppe noch zwei oder drei Pferde mitnehmen kann, auf denen soviel Getreide wie eben möglich befördert werden muß. Nicht alle Pferde werden es bis nach Sethanon schaffen, doch wenn man sie abwechselnd als Last- und Reittiere verwendet, sollten die meisten dort ankommen.«

»Viele der Verwundeten werden diesen Ritt nicht überleben, Hoheit«, sagte du Masigny.

»Der Ritt wird sicherlich mörderisch, doch alle sollen die Festung sicher verlassen. Egal, wie schwer jemand verletzt ist, ich möchte keinen Mann für die Schlachter zurücklassen. Du Masigny, laßt alle toten Soldaten auf die Mauer schaffen. Sie sollen in die Schießscharten gelehnt werden. Dann wird Murmandamus noch in der Dämmerung denken, er hätte eine besetzte Garnison vor sich.«

Er wandte sich an Guy »Das könnte ihn ein wenig aufhalten. Und jetzt bereitet Botschaften für die Wächter des Nordens vor, in denen ihnen die Ereignisse hier geschildert werden. Wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich läßt, ist Michael, der Lord der Wächter des Nordens, ein wenig heller im Kopf als der alte Baron von Hohe Burg. Vielleicht kann Michael ein paar Soldaten losschicken, die die Flanken von Murmandamus' Heer angreifen. Ich möchte Botschaften nach Sethanon - «

»Wir haben nicht genug Tauben hier, Hoheit«, sagte de la Troville. »Wir erwarten welche, doch die kommen erst mit dem Wagenzug in einem Monat.« Der Fehler seines früheren Kommandanten machte ihn verlegen. »Es wurde übersehen.«

»Wie viele Tauben sind noch in den Käfigen?«

»Ein Dutzend. Drei zu den Wächtern des Nordens. Jeweils zwei nach Tyr-Sog und Loriél, und fünf nach Romney.«

Arutha sagte: »Dann können wir die Nachricht wenigstens verbreiten. Bittet Herzog Talwyn von Romney, daß er eine Nachricht zu Lyam nach Rillanon sendet. Die Armeen des Ostens müssen nach Sethanon marschieren. Martin wird dort sicherlich bald mit Vandros' Armee eintreffen. Und sobald er mit den Flüchtlingen aus Armengar zusammentrifft und die Route erfährt, die Murmandamus eingeschlagen hat, wird er mit seinen Truppen umkehren und die Armee von Yabon nach Falkenhöhle schicken, wo sie sich durch die Berge schlagen und diesen Weg nehmen kann. Wir schicken ebenfalls Botschaften nach Tyr-Sog, und von dort können ihm berittene Kuriere mitteilen, wo genau wir uns aufhalten. Die Garnison von Krondor wird losmarschieren, sobald Gardan eine Nachricht von Martin erhält. Und unterwegs wird er in Finstermoor weitere Truppen sammeln.« Er erschien fast zuversichtlich. »Vielleicht können wir Sethanon halten.«

 

»Wo ist Jimmy?«

Locklear sagte: »Er hat gemeint, er habe noch etwas zu erledigen und sei sofort zurück.«

Arutha sah sich um. »Was ist das wieder für ein Unfug?« Bald würde es hell werden und die letzte Abteilung Soldaten war bereits dabei, die Garnison zu verlassen. Aruthas Gefährten, die letzten fünfzig Soldaten und zwei Dutzend weitere Pferde waren am Tor postiert, und jetzt war Jimmy irgendwo verschwunden.

Dann kam der Junge angestürmt und winkte, daß es losgehen könne. Er sprang in den Sattel, und Arutha gab das Zeichen zum Öffnen der Einlaßtore. Sie wurden weit aufgestoßen, und Arutha führte die Kolonne hinaus. Als Jimmy ihn einholte, fragte Arutha: »Was hat dich aufgehalten?«

»Eine kleine Überraschung für Murmandamus.«

»Was?«

»Ich habe eine Kerze auf ein kleines Ölfaß gestellt, das ich gefunden habe. Die Kerze steht auf Stroh und Lumpen. Das Faß geht vielleicht so in einer halben Stunde in die Luft. Wird nicht viel kaputtmachen, doch es wird einige Stunden brennen und jede Menge Qualm erzeugen.«

Amos lachte entzückt. »Und nach Armengar werden sie nicht mehr so schnell voranstürmen, wenn sie ein Feuer sehen.«

Guy sagte: »Helles Kerlchen, Arutha.«

Jimmy freute sich über das Lob. Arutha meinte jedoch nur trocken: »Manchmal ein wenig zu hell.«

Jimmy zog eine beleidigte Miene, während Locklear grinste.

 

Ein Tag war vergangen. Von dem Zeitpunkt, an dem sie aufgebrochen waren, bis zum Sonnenuntergang sahen sie kein Zeichen der Verfolger. Murmandamus hatte anscheinend die leere Festung durchsuchen lassen und seine Armee dann für den langen Marsch durch den Hogewald neu formiert, überlegte Arutha. Nein, sie hatten sich vor den Angreifern geschickt davongestohlen und würden nun wahrscheinlich ihren Vorsprung halten können, außer vielleicht vor der schnellsten Kavallerie.

Sie konnten die Pferde richtig antreiben, benutzten sie abwechselnd als Last- und Reittiere und legten fünfunddreißig bis vierzig Meilen am Tag zurück. Einige Pferde würden sicherlich bald lahmen, doch mit etwas Glück hätten sie den Hogewald in einer Woche durchquert. Waren sie erst im Düsterwald, würden sie zwar langsamer vorankommen, doch die Chancen, eingeholt zu werden, wären ebenfalls geringer, weil sich die Verfolger zwischen den hohen Bäumen vor Hinterhalten in acht nehmen mußten.

Am zweiten Tag kamen sie an den ersten Leichen vorbei, Verwundete, die den harten Ritt nicht überstanden hatten. Ihre Kameraden hatten den Befehl befolgt, die Toten von den Sätteln losgeschnitten und keine Zeit mit einem Begräbnis verschwendet, ja, sie hatten ihnen nicht einmal die Rüstungen und Waffen abgenommen.

Am dritten Tag gegen Sonnenuntergang entdeckten sie die ersten Anzeichen der Verfolger: vage Schemen am Horizont. Arutha ließ die Truppe noch eine Stunde länger reiten, und als die Dämmerung anbrach, konnten sie die hinter ihnen nicht mehr sehen.

Am vierten Tag kamen sie durch das erste Dorf. Die Soldaten, die vor ihnen dort gewesen waren, hatten alle vor der drohenden Gefahr gewarnt, und der Ort war jetzt verlassen. Nur aus einem einzigen Schornstein stieg noch Rauch auf, und Arutha schickte einen Soldaten hin, der nachsehen sollte. In dem Haus schwelte allerdings nur noch das Feuer im Kamin, zurückgeblieben war niemand. Ein wenig Saatgetreide fanden sie noch, alle anderen Vorräte waren verschwunden. Es gab nichts, was dem Feind in irgendeiner Art nützlich sein könnte, deshalb ließ Arutha das Dorf stehen. Hätten die Bewohner nicht schon alles beiseite geschafft, hätte er den Ort niederbrennen lassen. Murmandamus' Soldaten würden das sowieso tun, doch er fühlte sich besser, wenn er das Dorf so zurückließ, wie er es vorgefunden hatte.

Gegen Ende des fünften Tages sahen sie, wie sich ihnen von hinten ein Trupp Reiter näherte. Arutha gab den Befehl zum Halten, und sie machten sich bereit. Die Reiter kamen nahe genug, daß man sie als Späher der Moredhel erkennen konnte, doch sie kehrten schließlich um und ritten zu ihrer Hauptarmee zurück, anstatt sich auf einen Kampf mit einer größeren Truppe einzulassen.

Am sechsten Tag überholten sie einen Zug Wagen, der schon von den ersten Einheiten der Garnison vor der drohenden Gefahr gewarnt worden war und nach Süden fuhr. Die Wagenführer kamen nur langsam voran und würden am nächsten Tag sicher von Murmandamus' vordersten Einheiten eingeholt werden. Arutha ritt zu dem Kaufmann, dem die Wagen gehörten, und schrie ihm zu: »Spannt die Pferde aus und reitet auf ihnen. Sonst könnt ihr den Dunklen Brüdern nicht entkommen, die hinter uns her sind.«

»Aber mein Getreide!« jammerte der Kaufmann. »Ich verliere alles!«

Arutha gab das Zeichen zum Halten. Als die Wagen zum Stehen gekommen waren, rief er: »Jeder Mann nimmt einen Sack vom Getreide des Kaufmanns. Wir brauchen es für den Düsterwald. Der Rest wird verbrannt.«

Der protestierende Kaufmann befahl seinen Wächtern, die Fracht zu verteidigen, doch die Söldner warfen nur einen kurzen Blick auf die fünfzig Soldaten von Hohe Burg und machten ihnen dann Platz, damit sie das Getreide nehmen konnten.

»Spannt die Pferde aus!« befahl Guy.

Die Soldaten taten wie geheißen und führten die Tiere davon. In wenigen Minuten wurden die Getreidesäcke vom ersten Wagen auf die Reiter des Kaufmanns verteilt. Der Rest des Getreides auf den anderen Wagen wurde angezündet.

Arutha sagte zu dem Kaufmann: »Es sind dreißigtausend Goblins, Dunkle Brüder und Trolle unterwegs, und sie nehmen diesen Weg, Meister Kaufmann. Falls du denkst, ich hätte dir ein Unrecht angetan, dann denke einmal darüber nach, was dir widerfahren wäre, wenn du deine Wagen inmitten einer solchen Gesellschaft durch den Düsterwald geführt hättest. Jetzt nimm das Getreide für deine Reittiere und mach dich nach Süden auf. Wir werden Sethanon halten, doch wenn es um meine Haut ginge, würde ich an der Stadt vorbeireiten und nach Malac's Cross ziehen. Solltest du das Geld für dein Getreide haben wollen, dann bleib in Sethanon, und falls wir diesen Krieg überleben, werde ich dich entschädigen. Das mußt du selbst entscheiden. Ich habe jedenfalls keine Zeit mehr zu verlieren.«

Arutha gab den Befehl, weiter zu ziehen, und er war nicht überrascht, als er den Kaufmann und seine Söldner Minuten später ihnen folgen sah, so dicht, wie es ihre erschöpften Tiere erlaubten. Nach einer Weile rief Arutha Amos zu: »Wenn wir Rast machen, gebt ihnen neue Pferde. Ich will sie nicht zurücklassen.«

Amos grinste. »Inzwischen sind sie reichlich verängstigt, und sie werden sich anständig benehmen. Laßt sie nur noch ein bißchen weiter zurückfallen, dann werden sie uns heute abend einholen und sich freudig und verständig zeigen.«

Arutha schüttelte den Kopf. Selbst bei einem so mörderischen Ritt verlor der alte Kapitän nicht seinen Sinn für Humor.

Am siebten Tag erreichten sie den Düsterwald.

 

Kampfgeräusche ließen sie anhalten. Arutha gab Galain ein Zeichen, und der Elb ritt mit einem der Soldaten auf die Quelle des Lärms zu. Ein paar Minuten später kehrten sie zurück, und Galain sagte: »Es ist vorbei.«

Sie ritten ostwärts und trafen auf einer Lichtung auf Soldaten von Hohe Burg. Ein Dutzend Moredhelleichen lag am Boden. Der befehlsführende Feldwebel salutierte, als er Arutha erkannte.

»Wir haben unsere Tiere ein wenig ausruhen lassen, als sie uns angriffen, Hoheit. Glücklicherweise war noch eine Gruppe von uns in der Nähe und kam uns zu Hilfe.«

Arutha blickte Guy und Galain fragend an. »Wie zum Teufel konnten sie uns überholen?«

Galain sagte: »Das haben sie gar nicht. Sie sind den ganzen Sommer hier gewesen und haben gewartet.« Er sah sich um. »Dort drüben, glaube ich.« Er führte Arutha zu einer Baumfalle, hinter der sich der Eingang einer kleinen Hütte verbarg, sehr schlau mit Buschwerk getarnt. In der Hütte fanden sie ein Lager mit Getreide, Waffen, getrocknetem Fleisch, Sätteln und anderen Ausrüstungsgegenständen.

Arutha untersuchte rasch alles, dann sagte er: »Dieses Unternehmen wurde schon lange im voraus geplant. Jetzt ist jedenfalls sicher, daß Sethanon immer Murmandamus' Ziel war.«

»Aber wir wissen immer noch nicht, warum« bemerkte Guy.

»Nun, wir müssen eben weiterziehen, ohne es zu wissen. Nehmt alles mit, was wir gebrauchen können, und zerstört den Rest.«

Den Feldwebel fragte er: »Habt Ihr noch weitere Gruppen gesichtet?«

»Ja, Hoheit. De la Troville hatte sein Lager letzte Nacht eine Meile weiter im Nordosten. Wir haben eine seiner Wachen getroffen, und wir sollten weiterziehen, damit sich nicht zu viele Leute an einem Punkt sammeln.«

Guy fragte: »Und Dunkle Brüder?«

Der Feldwebel nickte. »Der Wald wimmelt von ihnen, Euer Gnaden. Wenn wir an ihnen vorbeireiten, machen sie uns wenig Ärger. Nur wenn wir halten, bekommen wir es mit ihren Heckenschützen zu tun. Glücklicherweise tauchen sie meist nur in kleinen Gruppen auf, so groß wie diese. Trotzdem ist es besser für uns, wenn wir in Bewegung bleiben.«

Arutha sagte: »Nehmt Euch fünf von meinen Männern und macht Euch nach Osten auf. Verbreitet folgenden Befehl: Alle sollen auf diese Lager von Murmandamus achten. Wahrscheinlich sind sie bewacht, deshalb haltet nach Stellen Ausschau, wo die Dunklen Brüder sich gegen Eure Übergriffe zur Wehr setzen könnten. Alles, was ihnen hilfreich sein kann, muß zerstört werden. Und jetzt solltet Ihr besser losreiten.«

Dann befahl Arutha einem weiteren Dutzend Männer, sie sollten einen halben Tag nach Westen reiten und dann nach Süden abbiegen, wobei sie ebenfalls die Nachricht von den geheimen Lagern verbreiten sollten. Zu Guy sagte er: »Dann wollen wir uns mal wieder auf den Weg machen. Ich kann es regelrecht spüren, wie uns seine Vorhut im Nacken sitzt.«

Du Bas-Tyra nickte und sagte: »Dennoch könnten wir ihm die Reise noch ein bißchen erschweren.«

Arutha sah sich um. »Ich habe schon die ganze Zeit auf einen geeigneten Ort für einen Hinterhalt gewartet. Oder eine Brücke, die wir hinter uns zerstören könnten. Oder eine Wegenge, die wir mit einem Baum versperren könnten. Allerdings habe ich nichts entdeckt.«

Amos stimmte dem zu. »Dies ist der verdammt zuvorkommendste Wald, den ich je gesehen habe. Man könnte hier mit zwanzig Mann nebeneinander marschieren, und nicht einer würde aus dem Glied geraten, weil er einem Baum ausweichen muß.«

Guy sagte: »Also nehmen wir, was wir kriegen können. Machen wir uns auf.«

Der Düsterwald bestand aus lose miteinander verbundenen Waldstücken und war kein richtiger Wald wie der Weidenwald oder das Grüne Herz. Nach drei Tagen kamen sie durch eine Wiesenlandschaft, dann betraten sie einen wirklich dunklen und nichts Gutes verheißenden Wald. Einige Male warteten sie, bis Galain Wegzeichen der Moredhel vernichtet hatte. Bis die Moredhelspäher merkten, daß sie auf dem falschen Weg waren, würden sie noch ein wenig weiter marschieren müssen.

Noch dreimal stießen sie auf Vorratslager von Murmandamus. Tote Moredhel und Soldaten verrieten die Stellen, an denen sie angelegt worden waren. Die Schwerter waren ins Feuer geworfen worden, damit sie die Schärfe verloren, das Getreide war auf dem Boden verstreut oder verbrannt worden, Kleidung, selbst die Säcke für das Getreide waren ein Raub der Flammen geworden.

Als sich die zweite Woche im Wald dem Ende näherte, rochen sie Rauch und mußten vor einem Waldbrand fliehen. Die Ursache war offensichtlich Übereifer bei der Vernichtung von Murmandamus' Vorratslagern; irgendwo hatten die Flammen auf den Wald übergegriffen, der nach dem Sommer trocken und ausgedörrt war. Während sie vor der Feuersbrunst davonritten, schrie Amos: »Das sollten wir tun. Wir sollten warten, bis Seine Hoheit, der Bastard, sich in den Wald begibt und ihn dann abfackeln. Ha!«

Als sie den Düsterwald schließlich verließen und wieder in bewohnte Gegenden kamen, hatte Arutha sechs Pferde verloren, doch nicht einen Mann, den Kaufmann und seine Söldner einbezogen. Nach Sonnenuntergang konnten sie am Horizont im Süden ein schwaches Glühen ausmachen.

Amos zeigte darauf und sagte zu den Jungen: »Sethanon.«

 

Sie erreichten die Stadt und wurden am Tor von den Soldaten der Garnison angehalten. »Wir wollen wissen, wer bei Euch den Befehl hat«, schrie der diensthabende Feldwebel. Deutlich war sein Rangabzeichen auf dem grünweißen Waffenrock der Baronie von Sethanon zu sehen.

Arutha gab ihm ein Zeichen, und der Feldwebel fuhr fort: »Seit einem halben Tag kommen aus den Wäldern Soldaten von Hohe Burg hier an. Wir haben ihnen einen Lagerplatz auf dem Kasernenhof zugewiesen. Der Baron will denjenigen sehen, der für diesen Haufen verantwortlich ist.«

»Sagt ihm, ich würde kommen, sobald diese Männer hier untergebracht sind.«

»Und wen soll ich ihm melden?«

»Arutha von Krondor.«

Dem Mann fiel die Kinnlade herunter. »Aber ...«

»Ich weiß, ich bin tot. Teilt Baron Humphry dennoch mit, ich würde in einer Stunde bei ihm im Wohnturm erscheinen. Und sagt ihm, ich würde Guy du Bas-Tyra mitbringen. Dann schickt schnell einen Mann in den Kasernenhof und laßt ihn erfragen, ob Baldwin de la Troville und Anthony du Masigny sicher hier gelandet sind. Sollte das der Fall sein, laßt sie zu mir bringen.«

Der Feldwebel stand einen Moment lang wie erstarrt da, dann salutierte er. »Ja, Hoheit.«

Arutha gab seiner Truppe ein Zeichen, und sie ritten in die Stadt hinein. Zum ersten Mal seit Monaten konnten sie wieder einen Blick auf das alltägliche Leben im Königreich werfen, in einer Stadt, in der die Bürger ihren Geschäften nachgingen und sich von ihrem gnädigen Fürsten wohlbehütet fühlten. Die Straßen waren voller Bürger, die auf dem Markt einkauften, feilschten und auch feierten. Überall sah Arutha das gewohnte und zu erwartende Bild. Wie bald sich das ändern würde.

 

Arutha ordnete an, die Tore zu schließen. In den letzten Wochen war denen, die ihr Glück wagen und in den Süden fliehen wollten, das Verlassen der Stadt erlaubt worden. Jetzt sollte die Stadt geschlossen werden. Weitere Botschaften waren zu den Garnisonen in Malac's Cross, Süden und Finstermoor geschickt worden - sowohl per Taube als auch per Kurier -, falls die anderen Botschaften ihr Ziel nicht erreicht hatten. Alles, was getan werden konnte, war erledigt, und nun konnten sie nur noch warten.

Die Späher, die in den Norden geschickt worden waren, hatten berichtet, Murmandamus' Armee habe den Düsterwald nun vollkommen unter Kontrolle. Jeder Bauernhof zwischen dem Waldrand im Norden und der Stadt im Süden war verlassen, die Bewohner hatten die Sicherheit der Mauern aufgesucht. Der Prinz hatte einen strengen Plan für die Räumung ausgearbeitet. Alle Lebensmittel sollten nach Sethanon gebracht werden, und dort, wo die Zeit nicht ausreichte, wurden einfach alle Höfe abgebrannt. Die Herbsternte an Getreide, die noch nicht eingebracht war, wurde auf den Feldern angesteckt, nicht gepflücktes Gemüse wurde umgegraben oder vergiftet, und die Herden, die zu weit entfernt waren, um sie zur Stadt zu treiben, wurden in Richtung Süden oder Osten auseinander gescheucht. Nichts, was dem heranziehenden Heer irgendwie nützen konnte, wurde zurückgelassen. Nach Berichten von Soldaten, die Sethanon erreichten, waren noch mindestens dreißig von Murmandamus' geheimen Vorratslagern entdeckt und geplündert oder zerstört worden. Arutha machte sich keine falschen Hoffnungen. Bestenfalls hatte er den Angreifern weh getan, doch echten Schaden hatte er damit nicht angerichtet.

Arutha saß zusammen mit Amos, Guy, den Offizieren aus Hohe Burg und Baron Humphry zu Rate. Humphry trug seine volle Rüstung - er fühlte sich darin ziemlich unbehaglich, denn es war eine Prunkrüstung mit überflüssigem Pomp, die eher für die Parade als für die Schlacht gedacht war -, den goldenen, mit Federn geschmückten Helm hielt er vor sich. Er hatte Arutha bereitwillig den Befehl überlassen, weil es des Standorts wegen in der Garnison von Sethanon fast keine schlachterprobten Offiziere gab. Arutha hatte Guy, Amos, de la Troville und du Masigny in Schlüsselpositionen eingesetzt. Jetzt saßen sie zusammen und gingen die Aufstellung der Truppen und die Listen der Vorräte noch einmal durch. Arutha sagte: »Wir können einer Armee, die so groß ist wie die von Murmandamus, bis zu zwei Monaten widerstehen, unter normalen Umständen. Bei dem allerdings, was wir in Armengar und Hohe Burg gesehen haben, kann man kaum von normalen Umständen ausgehen. Murmandamus muß in zwei Wochen die Stadt erreicht haben, spätestens in drei; anderenfalls läuft er Gefahr, von den ersten Frosteinbrüchen überrascht zu werden. Der regnerische Herbst steht vor der Tür, und das wird seinen Sturm verlangsamen, und ist erst einmal Winter, hat er nur noch eine verhungernde Armee zu befehligen. Nein, er muß Sethanon rasch einnehmen und verhindern, daß wir unsere Vorräte aufbrauchen oder vernichten.

Wenn die Dinge für uns sehr gut laufen, hat Martin die Ausläufer des Calastiusgebirges unterhalb von Falkenhöhle schon verlassen und ist mit der Armee von Yabon auf dem Weg hierher, mit mindestens sechstausend Soldaten also. Doch er ist auf jeden Fall noch zwei Wochen entfernt. Ungefähr zur gleichen Zeit könnten die Soldaten von den Wächtern des Nordens und aus Süden hier eintreffen. Wenn alles klappt, müssen wir die Stadt nur zwei Wochen alleine halten, wenn nicht, höchstens vier. Sollte es länger dauern, kommt vermutlich alle Hilfe zu spät.«

Er erhob sich. »Meine Herren, jetzt können wir nur noch eines tun: auf den Feind warten. Ich schlage vor, wir ruhen uns aus und beten.«

Arutha verließ den Ratssaal. Guy und Amos folgten ihm. Alle zögerten einen Moment, als dächten sie über das nach, was sie bisher durchgemacht hatten, dann ging jeder seines Weges.